Schon vor unserer Heirat haben wir darüber gesprochen, dass wir gerne Pflegekinder aufnehmen möchten. Noch während des Studiums von Matthias kam 1992 unser Sohn Clemens* auf die Welt. Damals wohnten wir in Mainz in einer 2-Zimmer-Altbauwohnung. Kurz nach der Geburt bekamen wir ein Schreiben vom Mainzer Jugendamt, in dem wir zu unserem Sohn beglückwünscht wurden, aber auch darauf aufmerksam gemacht wurden, dass es auch viele Kinder gibt, die es nicht so gut haben und ein neues Zuhause suchen. Da Christiane sowieso zu Hause blieb, fragten wir gut ein Jahr später beim Jugendamt nach, ob wir ein Pflegekind aufnehmen könnten. Wir hatten inzwischen eine 3-Zimmerwohnung und Matthias war mit seinem Studium fertig. Wir wurden überprüft, brauchten aber im Vergleich zu heute, keine Seminare zu besuchen. Und nur einige Tage nach der Anerkennung als Pflegeeltern kam der Anruf vom Jugendamt, dass sie evt. eine Pflegetochter im Alter von 6 Monaten haben. Alle bisher gemachten Vorstellungen, wie dieser Moment sein würde, waren über den Haufen geworfen. Wir sollten ein weiteres Kind bekommen! Ein paar Tage später hatten wir ein Informationsgespräch mit der Jugendamtssachbearbeiterin. Bei diesem Gespräch wurden wir über den Hintergrund von diesem Mädchen aufgeklärt und sollten uns überlegen, ob wir es kennenlernen möchten. Das Mädchen war das 9. Kinder eines Ehepaares aus Mainz, die nun alle Kinder durch das Jugendamt rausgenommen bekamen. Grund: Vernachlässigung. Das Mädchen lebte zu diesem Zeitpunkt schon 2 Monate bei einer Bereitschaftspflegemutter. Uns war recht schnell klar, dass wir das Mädchen kennenlernen möchten. Nur kurze Zeit später sind wir hingefahren. Wir können uns auch heute noch genau an den Augenblick erinnern als wir Zoe das erste Mal gesehen haben. In dem Augenblick als die Tür aufging und wir Zoe auf dem Arm der Bereitschaftspflegemutter sahen, haben wir uns in sie verliebt und damit war die Entscheidung gefallen. Obwohl das Jugendamt unsere Entscheidung erst am nächsten Tag haben wollte, sind wir noch am gleichen Tag einkaufen gefahren: Kinderbettchen, Kleidung, Autositz usw. Christiane besuchte Zoe dann nochmals mit Clemens. Matthias hat Zoe 2 Tage später abgeholt. Es war schon sehr bewegend gewesen. Wir mussten Kleidung mitbringen. Zoe hat nichts mitbekommen. Aufgrund der Vernachlässigung war sie stark beeinträchtigt. Sie konnte keinen Augenkontakt aufnehmen, hatte keinen Muskeltonus, hat nicht geschrien, war einfach teilnahmslos. Als erstes nahm sie nach einiger Zeit unsern Sohn Clemens wahr und lachte ….. lachte, war dies ein Freudenfest gewesen! Ihr erstes Lachen!

Einige Jahre später und nun wohnhaft in Wiesbaden, wo Matthias als Büro- und Verwaltungsleiter und im pastoralen Dienst in einer Gemeinde arbeitete, haben wir uns entschlossen ein weiteres Kind aufzunehmen. Clemens und Zoe waren inzwischen im Kindergarten und wir hatten einfach den Eindruck, dass unsere Familie noch nicht komplett war. Glücklicherweise war zu diesem Zeitpunkt noch das Jugendamt Mainz für uns zuständig, wo wir eine sehr kompetente Jugendsachbearbeiterin hatten. Als dann der Anruf kam, dass sie evt. wieder ein Mädchen für uns hätten, waren wir innerlich besser vorbereitet. Die Ausgangslage des Kindes war aber eine ganz andere gewesen. Das Mädchen hatte eine türkische Mutter, die 17 Jahre alt war als sie ihr Kind bekam. Der Vater war ein Italiener. Die Mutter hatte bis kurz vor der Geburt ihre Schwangerschaft geheim gehalten – was echt für uns heute immer noch nicht nachvollziehbar war. Sie wandte sich an das Jugendamt und kam nach der Entbindung in ein Mutter-Kindheim, wo sie mit Luana leben konnte. Dort hat sie sich die ersten Monate um sie gekümmert, ist dann aber von heute auf morgen verschwunden und ist in der Türkei verheiratet worden. Ein Kontakt zwischen ihr und Jugendamt bestand nicht mehr. Die Anfrage an uns war die, ob wir Luana bei uns aufnehmen könnten mit der Option der Adoption oder Vollzeitpflege. Allerdings hätte es auch sein können, dass Luana auch zurück zur Mutter gehen könnte. Nach einigen Überlegungen sagten wir ja ….. Ja zum Kennenlernen. Auch diesmal war der erste Augenblick entscheidend. Luana hat uns im ersten Moment für sich gewonnen. Einige Tage später kam Luana mit ihrem südländischen Temperament zu uns. Sie war damals 8 Monate alt. Nach gut einem Jahr ist dann die Mutter wieder aufgetaucht, es kam zu Besuchskontakten und zu einem Gerichtsprozess. Die Mutter hatte tatsächlich einen Antrag auf Zurückführung gestellt. Gott sei Dank wurde dieser vom Gericht ganz klar abgelehnt! Luana blieb bei uns!

2008 kam wieder der Gedanke auf ein weiteres Kind aufzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt lebten wir schon in Langen in einem eigenen Haus mit viel Platz und Matthias arbeitete in seinem ursprünglichen Beruf als Lehrer in einer Evan. Privatschule. Es war uns diesmal wichtig die Entscheidung zusammen unseren drei großen Kindern zu treffen. Ihre einzige Vorab-Bedingung: Es sollte ein Junge sein und schon etwas älter sein …. Im Kindergartenalter!  Allerdings haben wir diesmal 1 Jahr warten müssen. Seitens von verschiedenen Jugendämtern wurden wir auf Pflegekinder angesprochen. Aber es passte nicht. Wir haben jeweils vor dem Kennenlernen abgelehnt. Und dann kam wieder ein Anruf!! Es gab einen 3-jährigen Jungen, der schon seit 1 Jahr in der Bereitschaftspflege war und dringend vermittelt werden sollte. Da die Vorabinformationen alle stimmten, sagten wir einem ersten Treffen zu. Und wieder war der erste Eindruck zumindest für uns als Paar entscheidend. Es folgten dann weitere Treffen mit unseren drei großen Kindern, da sie alle auch ein Ja finden sollten. Sven wurde zusammen mit seiner kleinen Schwester der Mutter, die von ihrem Mann getrennt lebte, auch wegen Vernachlässigung weggenommen. Die kleine Schwester war zu dem Zeitpunkt des Kennenlernens schon vermittelt. Nach unserer gemeinsamen Entscheidung für Sven kam es zu einer 3-monatigen Anbahnungsphase, in der wir Sven besuchten und er uns besuchte. Es war eine sehr intensive Zeit gewesen und am Ende kam er sogar an seinem 3. Geburtstag endgültig zu uns. Wir waren und sind komplett!

Dies klingt nun alles recht gut, es war allerdings ein schwieriger Weg mit vielen Herausforderungen und manches Mal standen wir kurz vor dem Aufgeben – nur dies war für nie eine Option gewesen! Warum?

Zum einem, weil die Mädchen trotzdem, dass sie als Babys zu uns gekommen sind, ihre Geschichte haben. Es war für uns immer wieder heftig zu erleben, dass sie ganz tiefe Verletzungen in sich tragen, die bis heute eine Rolle spielen. Eine Vernachlässigung gerade in den ersten Lebensmonaten hinterlässt die tiefe Wunde nicht geliebt zu sein. Es ist ein Fass ohne Boden, man „buttert ständig Bestätigung und Annahme“ in das Kind hinein, aber es nicht fähig diese zu halten. Eine Ablehnung, dass die Mutter ihr Kind im Stich lässt, hinterlässt tiefe Wunden, dass sie nicht wichtig und wertvoll ist. Es kommt zu Schwierigkeiten in der Bindungsfähigkeit. Beide Mädchen haben Therapien gemacht, wir haben viel gebetet und trotzdem ist es ein Kampf für sie ihren Platz zu finden, Verantwortung für sich zu übernehmen und Herausforderungen zu meistern. Das Thema „Selbstwirksam“ ist für uns gerade ein Schlüsselwort: Unter dem Begriff Selbstwirksamkeit fasst die psychologische Forschung eine bestimmte Überzeugung, die in absolut jedem Kopf steckt und arbeitet. Die Überzeugung nämlich, dass wir das, was wir grade tun wollen oder planen zu tun, auch wirklich tun können. Ohne dass wir es merken, beantwortet unsere Selbstwirksamkeit uns ständig die Frage "Schaffe ich das?"

Zum anderen, weil die jeweilige Geschichte der Pflegekinder weiter geht. Beide Mädchen haben Kontakt zu ihren leiblichen Eltern gesucht und mussten beide erleben, dass ihre Eltern nicht in der Lage waren und sind wirklich Eltern zu sein. Dass es reale Gründe gibt, warum sie nicht bei ihnen aufwachsen konnten. Zurückweisung, Ablehnung und Ignoranz mussten beide leider sehr schmerzhaft erleben. Es sind ihre leiblichen Eltern und müssen lernen dies in ihrem Leben zu integrieren. Eine schwierige Aufgaben, wo wir als Pflegeeltern nur bedingt helfen können. Wir versuchten stets ein positives Bild der Eltern aufzuzeichnen und ihnen immer wieder aufzuzeigen, dass sie bei uns willkommen sind. So feierten wir immer den Willkommenstag, der Tag an sie zu uns gekommen sind, ähnlich wie ein Geburtstag.

Pflegekinder aufzunehmen ist eine Aufgabe, wir würden sagen eine Berufung. Wir haben oft vor Problemen gestanden, wo wir einfach sagen mussten, warum auch das noch! Aber wir haben alle 3 Pflegekinder vom ersten Augenblick als unsere Kinder angenommen und sie haben einen Platz in unserem Herzen eingenommen und kämpfen für sie. Es war und bleibt spannend, zudem Sven auch noch seinen Weg finden muss. Es gäbe noch viel zu berichten und e ist sicher noch nicht alles gut, aber wir sind ja auch noch nicht am Ende.

Matthias und Christiane Umbach

*Die Namen der Kinder sind verändert!